Rheinland-pfälzischer Landesverband Deutscher Sinti und Roma scheidet aus der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und – initiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz (LAG) aus

Rheinland-pfälzischer Landesverband Deutscher Sinti und Roma scheidet aus der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und – initiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz (LAG) aus

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Rheinland-pfälzischer Landesverband Deutscher Sinti und Roma scheidet aus der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und – initiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz (LAG) aus
Am Samstag, den 25. März 2023, hat die Landesarbeitsgemeinschaft „Erinnern und
Gedenken“ nach fast 30 Jahren als Initiative die Umwandlung zum Verein
beschlossen. Mit der Vereinsgründung soll eine verbesserte Grundlage für die Arbeit
der LAG und Anwerbung von Fördermitteln geschaffen werden.
Sowohl der rheinland-pfälzische Landesverband Deutscher Sinti und Roma als auch
QueerNet Rheinland-Pfalz kritisierten im Vorfeld der Gründungsversammlung, dass
in den Strukturen des neuen Vereins die Opfervertretungen nicht ausreichend
repräsentiert sind. Trotz intensiver Gespräche im Vorfeld mit Vertretern des
ehemaligen Sprecher*innenrats, dem selbst kein(e) Vertreter*in einer Opfergruppe
beisitzt, und den genannten Verfolgtenorganisationen fand ihr Anliegen keine
Berücksichtigung. Die Gespräche verhärteten sich und die Vertreter der
Opfergruppen wurden an die Mitgliederversammlung verwiesen.
Der Geschäftsführer des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, Jacques
Delfeld Jr. bemerkt:
„Es ist bedauerlich, dass es bei der Vereinsgründung letztlich zur Trennung
gekommen ist. Die Fortführung der Mitgliedschaft hätte vorausgesetzt, dass ein
Einvernehmen darüber existiert, dass Verfolgtenvertretungen ein wichtiger
Bestandteil der rheinland-pfälzischen Erinnerungskultur sind. Stattdessen hat der
Gründungsprozess nicht nur einen inhaltlichen Dissens offenbart, sondern auch,
dass es den maßgeblichen Akteuren an der nötigen Empathie, Sensibilität und
Wertschätzung im Umgang mit Opfervertretungen fehlt. Es waren unsere Menschen,
die in der NS-Zeit verfolgt, entrechtet, entmenschlicht und zu sog. ‚Feinden der
Volksgemeinschaft‘ erklärt wurden. Nach 1945 erlangten die NS-Täter*innen erneut
die Deutungshoheit über ihre Opfer und schrieben bruchlos die Narrative im Umgang
mit Sinti und Roma weiter. So konnte sich in der Nachkriegszeit die Diskriminierung
und Ausgrenzung unserer Menschen nahtlos fortsetzen – wir sprechen hier auch von
einer zweiten Verfolgung. Aus unserer Sicht kann es in der heutigen
Erinnerungskultur nicht mehr allein um das Erinnern und Gedenken an die NS-Opfer
gehen, es muss auch die Nachkriegsgeschichte einbezogen werden“.
Es ist mehr als enttäuschend, dass den Verfolgtenorganisationen im künftigen
Vereinsgebilde kein besonderer Status zugedacht worden ist. Deren Repräsentation
in den Entscheidungsgremien hätte sich schon aus dem Selbstverständnis der
Landesarbeitsgemeinschaft ergeben müssen. Stattdessen reduzieren die neuen
Strukturen der LAG die Opfervertretungen auf die Rolle von Beobachtern.
In den „großen“ Gedenkstätten herrscht in der heutigen Erinnerungsarbeit ein
Konsens darüber, dass man nicht ohne die Beteiligung der Opfervertretungen spricht
oder agiert. Wenn die LAG Rheinland-Pfalz innerhalb ihrer eigenen
Entscheidungsstrukturen auf deren Perspektiven und Expertisen verzichtet, was
drückt das über das Selbstverständnis der Arbeitsgemeinschaft aus?
Es wäre notwendig gewesen, hierfür Reflexionsräume zu schaffen und es hätte eines
längerfristigen und stufenweisen Planungsprozesses bedurft. Stattdessen ist der
Gründungsakt in einer Art Hauruck-Verfahren durchgeführt worden. So ist aus Sicht
der genannten Opfervertretungen ein unausgereifter Satzungsentwurf entstanden,
der in der Ursprungsfassung die Perspektiven und Expertisen von
Verfolgtenorganisationen komplett unberücksichtigt ließ und als „Zugeständnis“ einen
Beirat vorschlug, der keinerlei Befugnisse hat.
Der Satzungstext offenbart gravierende Mängel. Der Prozess der Verabschiedung
zeigt die Schwäche der LAG-Strukturen und das Fehlen einer kritischen
Verfolgtenperspektive. „Die Ausblendung der Nachkriegszeit als Zeit der Verfolgung
in der Präambel der Satzung, der Terminus „Kriegsopfer“ bei den Vereinszielen, all
dies wäre unter Beteiligung der Opfervertretungen kritisch hinterfragt worden“, so
Jacques Delfeld jr. „Auch in der Vergangenheit habe man im Bereich der
Erinnerungsarbeit schon Auseinandersetzungen mit verschiedenen Akteuren geführt.
Dabei sei es nicht nur um wissenschaftliche Forschungsinhalte oder -lücken
gegangen, sondern auch um den Umgang, die Interpretation und Bewertung von/mit
Täter*innendokumenten und Terminologien oder verschiedene Formen der
Vermittlung“, so Delfeld Jr. weiter.
Es ist bedauerlich, dass es keinen konkreten Fahrplan für die Mitglieder gegeben
hat, der den Prozess der Vereinsgründung offen und transparent gestaltet hätte. Die
Satzungsberatungen sind überwiegend im Kreis des Sprecher*innenrates erfolgt.
Mitgliedern und Verfolgtenorganisationen wurde im Vorfeld und selbst während der
Gründungsversammlung keinen Raum für Aussprachen zugebilligt.
Änderungsanträge wurden mit Gegenanträgen beantwortet. Mitglieder des
Sprecher*innenrates übten Druck auf die Versammlung aus und drohten mit Rücktritt,
falls der vorgefertigte Satzungstext nicht unverändert übernommen werde.
Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Überführung des ehemaligen
Sprecher*innenrates in den Vorstand ein höherer Stellenwert beigemessen wurde als
der Teilhabe von Opfervertretungen.
Auch der rheinland-pfälzische Landesverband Deutscher Sinti und Roma hatte im
Vorfeld schriftlich einen eigenen Änderungsantrag an den Sprecher*innenrat
weitergeleitet. Der Vorschlag sah ein Kuratorium vor, welches sich ausschließlich aus
Vertreter*innen von Opfergruppen zusammensetzte und dem die Aufsicht über die
Entscheidungsprozesse innerhalb der LAG obliegen sollte.
Dieser Änderungsvorschlag wurde in der Gründungsversammlung weder den
Mitgliedern zur Kenntnis gegeben noch thematisiert. „Die LAG reagierte auf die
begonnene Versammlungsdebatte, indem sie ihre Mehrheitsverhältnisse dafür
einsetzte, keine Aussprache zuzulassen. Für mich ist das ein Ausblick darauf, wie sie
fortan mit Anliegen von Opfergruppen umzugehen gedenkt.“, so Delfeld.
Der Verein Gedenken und Erinnern (LAG) erhebt den Anspruch künftig die
Erinnerungskultur in Rheinland-Pfalz mitzuprägen. Er formuliert im Bereich der
Erinnerungs- und Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz nun einen weitgehenden
Vertretungsanspruch gegenüber Zivilgesellschaft, Politik, Kultur, Medien und
Wirtschaft.
Es stellt sich jedoch die Frage, wie die LAG ohne die Perspektiven von
Opfervertretungen auskommen will, z.B. bei der Erstellung von Biografien von NS-
Opfern, der Förderung von Projekten und Initiativen, der Konzeption von Denk- und
Mahnmälern, Ausstellungen und Publikationen?
„Vielleicht braucht es in Rheinland-Pfalz eine neue Debatte darüber, wie
Erinnerungskultur verstanden wird und welche Rolle den Opfervertretungen dabei
zugedacht ist. Es stellt sich doch auch in politischer Hinsicht immer die Frage, wer
mit wem und für wen spricht und mit welcher Legitimation. Wir müssen in den
kommenden Wochen in Ruhe darüber nachdenken, wie wir in der Erinnerungsarbeit
fortfahren wollen. Uns ist jedenfalls durch die Vereinsgründung klar geworden, dass
die LAG unsere Perspektiven und Expertisen nicht mehr berücksichtigt“, so Delfeld.
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